Zum 90. Geburtstag von Edgar Reitz
Der Zweitwohnsitz der Erinnerung steht in Gehlweiler
Und einer sorgt dafür, dass es nicht hineinregnet: Ein Besuch im Haus der Familie Simon im erfundenen Dorf Schabbach
Nein, sagt Heribert Dämgen, nein, das Dach gefalle dem Denkmalschutzamt natürlich ganz und gar nicht. Aber was solle er denn tun? Fünfundvierzigtausend Euro, hatte ihm ein Restaurator vorgerechnet, würden ein neuer Dachstuhl plus Schindeln aus Schiefer kosten. So viel Geld hatte er nicht. Und bekam es auch nirgendwo her. Zusagen von der Deutschen Denkmalstiftung wurden wieder zurückgenommen, die Kreisverwaltung wollte sich nur unter Bedingungen beteiligen, die er unmöglich erfüllen konnte, und an Geldmittel aus den Töpfen für Schwerpunktgemeinden oder Dorferneuerungen kam er auch nicht heran. Sieben Jahre lang hat sich Heribert Dämgen mit den Behörden herumgeschlagen, bevor er das Dach kurzerhand mit Blech abdeckte. „Ich musste das Haus doch trocken halten“, sagt er. Das Häuschen mit der Hausnummer 43 steht am Ortsrand von Gehlweiler vis-à-vis der alten Steinbrücke über den Simmerbach. Keiner weiß, aus welcher Zeit es stammt. Aus dem achtzehnten Jahrhundert bestimmt, aus dem siebzehnten vielleicht. Das Fachwerk ist rot gestrichen, die Fassade weiß, zumindest dort, wo nicht Lehm und Stroh aus der Wand herausschauen. Der Eingang ist schmal, die Dielen knarzen, die Zimmer sind eng. Aber es ist, als betrete man eine Märchenwelt, eingerichtet mit einfachen Möbeln aus rohem Holz, eher praktisch als hübsch. In Regalen steht Geschirr aus Steingut, auf der Feuerstelle ein gusseiserner Topf, über dem Esstisch hängt ein angerosteter Leuchter für Kerzen. Einzige Zierde sind verblasste Ornamente auf der Wand. Nach draußen schauen kann man nicht, denn die Scheiben sind
lackiert, um sie blind zu machen. Mit Kitt sind geflickte Sprünge im Glas vorgetäuscht. Es ist die Anmut der Armut, die hier Gestalt angenommen hat. Dann sagt Herr Dämgen: „Natürlich alles Kulisse.“
Das Häuschen ist der Dreh- und Angel- Punkt des Kinofilms „Die andere Heimat“, der vierten Geschichte von Edgar Reitz um die Bewohner des fiktiven Hunsrückdorfes Schabbach, des Prequels zur Fernsehserie, datiert auf die Zeit um 1840, als Krankheiten und Hungersnot Tausende Menschen zwangen, die Gegend zu verlassen. In dem Haus leben im Film die Simons, vier Generationen auf engstem Raum, die je nach stand innerhalb der Familie die Räume immer wieder neu untereinander aufteilen.
Der Schreibtisch, an dem Jakob Simon seine Briefe an Humboldt schrieb, steht noch am Fenster. Das Bett in der Kammer ist mit grobem Leinen bezogen.
Neben der Schmiede, ein Stück weit die Straße hinauf, ist dieses Häuschen in Gehlweiler der ein-
zige noch erkennbare Ort des Films. Und wenn Heimat etwas ist, wie Edgar Reitz gerne sagt, das viele verloren glauben, obwohl sie es in Wirklichkeit nie besaßen, dann hat er uns mit dem fiktiven Schabbach einen Ersatz geschenkt – und dann ist dieses Haus so etwas wie der betretbare Zweitwohnsitz unserer Erinnerung. Denn das restliche Schabbach musste nach Ende der Dreharbeiten wieder verschwinden. Hatte Edgar Reitz den Ort für die elfteilige Fernsehserie noch am Schneidetisch mit Bildern von dreißig Dörfern zusammengesetzt, hatten ihn Kulissenbauer für „Die andere Heimat“ in drei Straßen von Gehlweiler komplett geschaffen, indem sie detailliert ausgearbeitete Fassaden aus Holz und Stroh, Plastik und Styropor vor die Häuser setzten, bis man sich in einem engen Fachwerkdorf der Biedermeierzeit wähnte. Die Straßen hatte man mit Lehmüberzogen, aus dem schon bald reichlich des gesäten Unkrauts wuchs.
Gut ein halbes Jahr lebten die Bewohner von Gehlweiler im Ausnahmezustand.
Denn hinter den an Gerüsten verschraubten Kunststoffwänden ging jenseits der Drehtermine das Leben seinen Gang. Bloß, dass die Bewohner nun viel Dreck ins Haus schleppten, dass es drinnen finster war, weil die aufgeklebten Fenster anderswo saßen als die richtigen, dass es kalt war in den Häusern, sechzehn grad mitten im Juli, weil die Sonne sie nicht mehr erreichte, und niemand durfte mehr mit dem Auto zum eigenen Haus fahren, weshalb man alle Einkäufe zweihundert Meter weit schleppen musste. Am Ende waren alle ziemlich genervt. Und Heribert Dämgen ist zwar enttäuscht darüber, dass von den gut zweihundert Einwohnern des Orts bis heute keine zehn sein Häuschen besucht haben. Wundert sich aber nicht. Heimat-Fieber sei in Gehlweiler nie ausgebrochen. Dabei sei es auch schön gewesen damals, so schön, dass jedes Wochenende etliche Tausend Menschen kamen, sich den Zauber anzuschauen.
Und mit den Bewohnern sei auch etwas geschehen: Jeden Abend trafen sie sich auf dem falschen Dorfplatz zwischen dem falschen Kirchenportal und dem falschen Gasthaus „Zur Brick“. „Ebbes“ habe es immer zu „verzählen“ gegeben. Kaum aber waren die Kulissen abgebaut, verkroch sichjeder wieder ins eigene Haus aus dem Standardkatalog moderner Provinzarchitekturvor seinen Fernseher. Das muss einem zu denken geben.
Auf einem Transparent vor dem alten Haus bietet Heribert Dämgen Touren durch die Räume an und fordert samt seiner privaten Telefonnummer sogar dazu auf, ihn spontan anzurufen. Aber die Leute hätten Hemmungen. Früher, sagt er, seien Gruppen mit Bussen gekommen, und zwei Veranstalter hätten sogar reisen für die Nachkommen jener Auswanderer organisiert, die in der sechsten und siebten Generation in Brasilien leben und sich im Fahrwasser des Films „Die andere Heimat“ im Hunsrück auf Spurensuche ihrer Ahnen machten. Hunsrücker platt, sagt Heribert Dämgen, hätten sie perfekt gesprochen, hochdeutsch dagegen kaum verstanden.
Seit Corona ist es ruhig geworden. Nur Vereine nutzten bisweilen das Angebot, in dem Häuschen bei Kaffee und Kuchen rund um das Küchenfeuer Platz zu nehmen. Für ein neues Dach reichten die Einnahmen nicht. Aber wenigsten für ein paar Eimer Putz, um die Außenwand auszubessern. Vielleicht, macht Heribert Dämgen sich Hoffnungen, würden es jetzt wieder ein paar mehr, da die Serie in 3sat wiederholt werde. Aber was Heribert Dämgen sich abgewöhnt hat, ist, dann von seinen Erfahrungen bei den Dreharbeiten zu erzählen und seinen Rollen als Komparse. Vielmehr berichtet er von den Umständen der Migration der Hunsrücker Bevölkerung. Wie viele damals die Gegend verlassen haben, könne man leider nicht mehr feststellen. Aber zehneinhalb Millionen Brasilianer seien heute deutscher Abstammung, das sei amtlich. Den meisten gehe es gut, und fast ausnahmslos seien sie untereinander verheiratet. und dann sagt er: „Emigration und Integration! das ist doch ein brandaktuelles Thema.“
Ein Bericht aus der: f r a n k f u r t e r a l l g e m e i n e z e i t u n g von Freddy Langer
Edgar Reitz und der Hunsrück: Eine Spurensuche im "Heimat-Land"
Bild zur Meldung: Zum 90. Geburtstag von Edgar Reitz